Gastarbeiter!

On 4. November 2011 by rkuebler

Viele fragen mich in letzter Zeit was ich eigentlich in Istanbul mache und nur wenige glauben mir dann, wenn ich mit “forschen” antworte. Klar ist diese Stadt touristisch extrem wertvoll und sollte sicherlich nicht im lebenslangen Touri-Programm ausgespart werden. Aber Istanbul blickt auch auf eine rege Forschungstätigkeit. Mehr als 60 Universitäten sind in der Stadt beheimatet und bieten eine respektable Forschungsinfrastruktur.

Mich selbst hat es durch die Verkettung glücklicher Umstände an die Ozyegin-University gespült. Analog zur Kühne Logistics University, dem neuen Arbeitsgeber meines Doktorvaters, ist die Ozyegin eine junge und private Universität, die vom reichsten Türken Hüsnu Ozyegin gegründet wurde.  Die Uni ist in ihrem 3. Jahr und bildet neben einer Armee von jungen Bachelorn, Master-Studenten, MBAs und Doktoranden aus.

Seit Gründung selbst hat die Uni eine BWL und eine ingenieurswissenschaftliche Fakultät. Dieses Jahr  kamen Psychologie und Jura dazu. Die Uni wächst schnell, mittlerweile gibt es zwei Campi. Der alte in Altunizade sitzt knapp hinter der ersten Bospurusbrücke und beheimatet die BWLer und die Juristen.


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Das Gebäude erinnert vom Interieur und der Aufmachung, sowie Aufteilung der Zimmer mehr an eine 90er Jahre Werbeagentur, denn an eine Uni. Aufgrund des hohen Erfolges und der Flut an Studierenden und Interessenten wurde diesen Oktober ein zweiter, neuer Campus am Rande von der asiatischen Seite Istanbuls geschaffen: Cekmeköy. Der Campus erfüllt alle Superlative der bekannten amerikanischen Campus-Oasen und wurde ebenso am Reißbrett hochgezogen. Wer auf Retortenstädte steht, dem sei ein Besuch angeraten. Ich selbst hatte ja einmal das kurze Vergnügen dort versehentlich in die Wildnis ausgesetzt zu werden. Von aussen sieht alles Top und Pikkobello aus, die Wohnheime können locker mit den einschlägigen *****-Sterne Apartment Komplexen Anatoliens mithalten, aber irgendwie fehlt dem ganzen etwas die Seele. Man hat sich also prima dem amerikanischen Vorbildern angepasst.

 

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Mich selbst hat es mehr aus Zufall hier her verschlagen. Durch meine Arbeit für die DFG konnte ich mir einen zwei- bis dreimonatigen Auslandsaufenthalt aussuchen und wollte eigentlich klarerweise weitest möglich weg. Lange wurde für Sydney geplant, was aber an der schwierigen Terminierung und dem mangelnden Interesse des dortigen Professors irgendwie scheiterte. Kathi brachte mich dann auf die Idee, dass ich doch meine alte Verbindung zu Koen Pauwels wieder aufbauen sollte und mich in Istanbul bewerben könne. Koen selbst ist eigentlich Belgier und hat in den USA an der UCLA promoviert und war lange Junior und Assoc. Prof. an der Tuck School of Business am Dartmouth College, der ältesten Business School der Welt und einem der renommierten Ivy League Universitäten. Koen ist mit einer türkischen Wissenschaftlerin verheiratet und kam daher irgendwann nach Istanbul und nahm das Angebot von Ozyegin an. Koen gehört mittlerweile dank seiner Arbeiten im Bereich des VAR-Modellings zu den führenden internationalen Marketing-Wissenschaftlern mit einer beachtenswerten Anzahl an A+-Publikationen und mehreren Best-Paper Awards in den führenden internationalen Journals. Ich selbst hatte ihn vor mehreren Jahren in Kiel kennen gelernt, als er für einen Gastvortrag in Kooperation mit Kerstin uns besuchen kam. Koen ist sehr umgänglich, engagiert und herzlich. Daher fiel mir meine zweite Wahl nicht sehr schwer und wie zu erwarten, hatte ich schnell eine Einladung der Türken. Im nachhinein die deutlich bessere Wahl, wie mir auch von vielen Seiten im Vorfeld meiner Abreise immer wieder gesagt wurde.

Aber was mache ich hier eigentlich? Aufgrund des DFG Projektes  ”Optimierung von Rückrufstrategien bei anonymen Gebrauchsgütern” musste auch ein Bezug zu meiner Dissertation erstellt werden. Mit ein bisschen Nachdenken in Kiel kam ich auf die Idee, dass wir einmal analysieren könnten, wie sich die Gestaltung der Rückrufkommunikation auf die Reaktion der Medien und der Konsumenten auswirkt. Da Koen ausgewiesener Experte bei der Modellierung dynamischer Prozesse ist, kamen wir dann auch auf die Idee, dass wir die sogenannten endogenen Effekte unserer Variablen mit in unser Modell einbauen wollen. Sprich wir untersuchen, wie sich die Menge und die Tonalität an Berichten in der gestrigen Periode (zum Beispiel am vorhergegangenen Tage oder der vorherigen Woche oder beim letzten Rückruffall einer Firma) auf die Berichterstattung, die Konsumentenreaktion und deren Tonalitäten in dieser Periode auswirken. Dazu haben wir von einem Clipping Dienst alle Clippings zu allen Rückruffällen der Firmen Ikea und KIK in den letzten 4 Jahren auf Tagesbasis recherchieren lassen. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 28 Produktrückrufe unterschiedlicher Härte durchgeführt. Unser Modell untersucht auf Basis dieser Daten, welche dynamischen Effekte zwischen den Rückrufen und der Kommunikation bestehen, wie Medien unterschiedlich auf die spezifischen Rückrufe reagieren und dieses Verhalten wieder weiter die Meinung der Konsumenten beeinflusst und steuert. In einer weiteren Art von Schleife erfassen wir dann wieder wie die bisherige öffentliche Meinung und die bisherige Berichterstattung das zukünftige Verhalten der Medien und die erneuten Konsumentenreaktionen steuert. Das Modell ist recht komplex und wir sind wirklich gespannt, ob wir unsere ersten Hypothesen verwerfen müssen, oder ob wir brauchbare Ergebnisse bekommen. Sollte uns unser Ansatz gelingen, können wir Unternehmen wertvolle Hinweise darüber geben, wie Rückrufe schadensminimal kommuniziert werden können, wie Hysterese-Szenarien verhindert werden können und wie Unternehmen erreichen können, dass in der Merhzahl betroffene Kunden informiert werden und weniger nicht betroffene Konsumenten von einem Produktdefekt erschreckt oder erzürnt werden können.

Die Arbeit mit Koen ist sehr fruchtbar und ich finde immer ein offenes Ohr für Fragen oder Diskussionen. Durch diese super Betreuung ergeben sich auch immer wieder neue Ideen, sodass wir jetzt bei 5 Projekten stehen. Wir analysieren momentan noch weiter, wie sich die Gestaltung der Rückrufkommunikation auf Seiten des Unternehmen auf die spätere Tonalität der Medien auswirkt und wie dieser Prozess von situativen Gegebenheiten, wie dem Defektrisiko oder dem Bedrohungsgrad durch den Produktdefekt moderiert bzw. verstärkt oder verringert wird. Dieses Projekt ist besonders spannend, da wir zum ersten Mal in der Marketing-Wisseschaft dabei auf linguistische Methoden zurückgreifen und die Textinhalte anhand verschiedener Dimensionen wie Emotionalität, Hysterie, Angst, Verunsicherung, Bedrohung oder Ablehnung analysieren und operationalisieren. Die dadurch gewonnen Daten geben wir dann in unsere statistischen Modelle weiter und können genau analysieren, welche Elemente der Rückrufkommunikation in welchen Situationen zu welchen medialen Reaktionen führen. Weiter erfassen wir, welche situativen Gegebenheiten dafür sorgen, dass Medien Informationen unbearbeitet weitergeben und welche Faktoren bedingen, dass Medien sich mit einem Rückruf stärker auseinandersetzen, diesen kommentieren oder gar bewerten. Unsere Ergebnisse in diesem Projekt werde Marketinglern in der Praxis einen wichtigen Einblick in das Verhalten der Massenmedien geben und zeigen, wie Rückruf schadensminimal kommuniziert werden können. Wir hoffen, dass dieses Projekt auch dazu dient, dass Manager ihre Scheu verlieren Rückrufe aufgrund der unbekannten Image-Folgen und der gefürchteten negativen Reaktionen der Medien nur verhalten und nicht weit reichend genug zu kommunizieren. Dies würde gleichzeitig bedeuten, dass mehr betroffene Konsumenten rechtzeitig über ein defektes Produkt informiert werden würden, was in Folge die allgemeine Verbrauchersicherheit wieder erhöhen würde.

Zwei weitere Projekte sind im Bereich Mobile App Marketing und schließen an unsere Kieler Arbeit  und unsere Präsentation bei der EMAC Konferenz in Ljuljana Ende Mai diesen Jahres an.

Aus Angst, dass ich bald nichts mehr zu erzählen habe (und weil es sonst mal wieder zu viel zum Lesen wird) höre ich jetzt aber auf!

Wer näheres wissen will, oder sich noch mehr für meine empirische Arbeit oder Istanbul interessiert, darf gerne nachfragen. Per Kommentar oder Mail! Ich freue mich über beides!

Bis dahin, hosc kalin!

 

Euer Raoul

 

 

 

 

 

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