Milton-City oder Friedman-Ville?

On 3. November 2011 by rkuebler

Ich hab mal vor einigen Jahren ein Buch über die Folgen der Chicago Boys und der totalen Auslegung des Friedmanschen Liberalismus gelesen (Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus ). Dabei ging es vor allem um die Folgen, Chancen und Probleme der Privatisierung bisheriger staatlicher Domänen. Frau Klein beschreibt dabei sehr beeindruckend, stellenweise aber sehr langwierig und teils schwaffelnd, die verschiedenen Risikien und Auswüchse des Liberalismus. Als Ökonom konnte ich an einigen Stellen nicht umhin mir beim Lesen zu überlegen, wie sehr links das Buch steht und wie sehr es suggestiv geschrieben ist. Allerdings habe ich schon in Hohenheim und auch in Kiel immer wieder von unseren VWLern gelernt, dass der Liberlismus mitnichten die Lösung aller Probleme darstellt und eine totale Privatisierung mitnichten der goldene Gral der Marktwirtschaft ist. Ich hoffe, dass spätestens mit der Transformation der FDP und Herrn Westerwelle in eine tägliche Reality-Soap auch den etwas Langsameren unter uns klar geworden ist, dass mehr Netto vom Brutto und weniger staatliche Einmischung mitunter Probleme mit sich bringen können. Monsieur Obama und seine britischen Neffen bekommen das ja gerade hautnah zu spüren und der Rest der EU hat glaube ich momentan auch nicht ein Grinsen im Gesicht, wenn es um den weiteren Umgang mit unseren Freunden aus dem Bankensektor geht…

Seis drum, ich wollte eigentlich gar nicht so politisch ausschweifen… Was mich fasziniert ist die Tatsache, dass man Istanbul als ein totales Friedmansches Experiment betrachten kann. Überall wo der öffentliche Sektor versagt oder kollabiert, entsteht eine Versorgungslücke, die von der privaten Wirtschaft schnellst möglich gedeckt wird:

Vor mehreren Jahren erkannte man, dass die städtischen ÖPNV-Mittel dem drängenden Wachstum und Verkehrsproblem der Stadt nicht mehr gewachsen sind. Die Busse der staatlichen IETT kamen immer zu spät, waren überfüllt, teils nicht mehr nutzbar, veraltet und in aller Regel unappetitlich. Scheinbar verfügte die öffentliche Hand auch nicht über ausreichende Mittel um diesen Problemen Herr zu werden. Also liberalisierte man kurzerhand den öffentlichen Transportsektor, in dem man jedem erlaubte eigene Busunternehmen auf den öffentlichen Routen zu installieren. Wie zu erwarten entwickelte sich schnell ein privatwirtschaftliches Interesse und ein zweiter, privater Betreiber installierte auf dem bisherigen Busnetz einen eigenen Dienst. Die Linienbusse unterscheiden sich lediglich in der Farbe. Man kann ebenso wie bei den IETT-Bussen mit den üblichen Token (kleine Münzchips, die man Pre-Paid aufladen kann) oder der Pre-Paid-Istanbul Karte zahlen. Im Gegensatz zur IETT akzeptieren diese Busse sogar Barzahlung oder ermöglichen zumindest die Aufladung der Karten und Token gegen Geld beim Busfahrer. So weit unterscheidet sich diese Maßnahme nicht von den uns bekannten Beispielen aus dem angelsächsischen Raum. Im Gegensatz zum Westen hat man allerdings den zusätzlichen Betreiber nicht durch Monopolzusicherungen geschützt. In Folge haben sich viele Mikrounternehmer gefunden, die in Form von Einbus-Unternehmen die IETT Strecken bedienen. Dieses Phänomen wird hier Minibüs genannt. Die Dinger sind allgegenwärtig, rasen die großen Busstrecken ab. Die Fahrer sind meist auch die Besitzer der kleinen Busse (meist Sprinter-Größe). Im Gegensatz zu den regulären und großen Bussen wird die Haltestellenpolitik etwas flexibler auf Handzeichen gehandhabt. Dazu hupen die Minibusse fast jeden Passanten an und fordern ihn zum Einsteigen auf.

Da diese Privatunternehmer auch auf ihren Umsatz angewiesen sind, sind sie sehr motiviert ihre Strecke schnellst und oft möglichst abzufahren. So sind die Minibusse auch viel schneller als ihre großen privaten oder staatlichen Brüder. Mit atemberaubender Geschwindigkeit bretzlen die Dinger die Hügel hier hoch und runter. Teils mit offenen Türen, was das Ein- und Aussteigen vereinfachen soll, aber die Fahrt auch mitunter sehr abenteuerlich gestaltet, vor allem wenn man mit mehr als 15 Personen in das Ding gequetscht ist. Preislich sind die Minibüsse noch dazu billiger. Der einheitliche Tarif liegt bei 1,25 Lira, egal ob man 1 Station oder die ganze Runde mitfährt. Die Identifikation der Fahrer mit ihrem Arbeitsgerät ist dazu sehr hoch. Entsprechend liebevoll und detailliert werden die Kisten dekoriert und getunt. Das artet bis teils ohrenbetäubenden Auspuff-Sound, deutschem TÜV widersprechenden Aussenanbauten und diversen Soundsystemen mit sogar (nur einmal gesehen) Discokugel im Bus aus.  Ihr seht, man bekommt was geboten für sein Fahrtgeld.

Weiter faszinierend, dafür aber weniger erfreulich und lustig ist die quasi mikro-ökonomische Privatisierung der Werstofftrennung und Müllverwertung. Private Haushalte trennen ihren Müll hier gar nicht. Alles wird in die Tonnen auf der Strasse geworfen. Dafür tauchen dann tagsüber junge Männer mit riesigen Sackkarren auf, die den Müll auseinander nehme und die Wertstoffe trennen und einsammeln. Die Tagesschau hat mit ihrem Blog einmal einen Papiersammler begleitet. Ein wirklich sehenswerter Beitrag!! Das Leben dieser Leute ist wenig rosig und ziemlich hart. Vor allem weil diese Stadt sehr hügelig ist und der Transport der vollen Sackkarren, egal ob hoch oder runter, kein Zuckerschlecken ist. Erschütternd war für mich heute die Tatsache, dass ich bei uns im Viertel eine Gruppe von Jungen gesehen habe, die alle kaum älter als 14 gewesen sein dürfen. Immerhin muss es noch für Zigaretten und Cola gereicht haben, beides haben sie in einer Pause bei uns in der Strasse fleissig konsumiert. Trotzdem keine Lösung! Auf Nachfrage in der Uni habe ich erfahren, dass die Leute die gesammelten Rohstoffe gegen Entgelt an Sammelstellen abgeben. Ich habe auch schon verschiedene Bettler gesehen, die anstelle von Geld um die Deckel von Plastikflaschen bitten oder um leere Flaschen. Obwohl es kein Pfand auf Leergut gibt, schein der Rohstoff Plastik (oder Rohöl) scheinbar hier schon als wertvoll erachtet zu werden. Das Titelbild ist übrigens in Eminönü in der Nähe der blauen Moschee entstanden. Ich das Bild sehr verschämt aus der “Hüfte” aufgenommen und wollte nicht drauf halten, aber wollte mir auch nicht die Chance entgehen zu lassen, dieses Phänomen und seine Auswüchse zu dokumentieren. Glücklicher Zufall, dass dabei der Kontrast zwischen billig vollgeshopptem Ami-Tourist mit GAP Pulli und dem armen Jungen sich auf meinen Sensor verirrt hat.

Etwas lustiger ist dann doch der Strassenverkehr hier. Auch hier hat man einfach jegliche staatliche Kontrolle über Bord geworfen und der einzelne sucht sich sein Optimum. Ich bin dabei jeden morgen zwischen Lachen und Staunen hin und hergerissen. Zum einen ist es wirklich lustig, wenn man sieht, wie plötzlich Einbahnstrassen in zweispurige Strassen unter zu Hilfenahme des Gehsteiges umfunktioniert werden (in denen dann auch noch überholt wird), wie man erst 3 Meter vor der Abfahrt von ganz links nach ganz rechts zieht und so weiter. Das Tolle: es funktioniert, keine stoppt irgendwann richtig und jeder kommt mit seinem Tempo voran. Auf Nachfrage wird einem schnell erklärt, dass man ja anders sonst gar nicht mehr voran käme und dass dann die einzige Chance sei. Erwidert man, dass mit etwas Disziplin und einer gewissen Regelgläubigkeit alle schneller wären, wird man milde belächelt und darauf hingewiesen, dass das eben vorgeschlagene Konzept ja  schon beim Ausscheren einiger weniger nicht mehr funktionieren würde und daher aus Vorsicht besser sich keiner unterwerfen solle. Sobald dieser Punkt aufkommt, muss ich immer wieder akzeptieren, dass ich vielleicht doch deutscher bin, als ich mir das oft eingestehen will. Seis drum, immerhin kann ich jetzt den ein oder anderen Spruch der deutschen Offiziere aus Aufstand in der Wüste verstehen. Und dieses liberale Verhalten am Ende zum Wohle aller wieder das Eingreifen des Staates gefordert. Um den öffentlichen Transport weiter in Gang zu bringen und Verkehr weiter zu entlasten hat man auf allen Autobahnen feste Mauern um die mittleren Spuren gebaut und so den öffentlichen Verkehr ausgesperrt. Dafür rasen dort jetzt pünktlich und zuverlässig die sogenannten Metrobuss und ermöglichen eine schnelle Passage der Stadt auf der Ost-West-Achse. Das ganze Projekt hat auch dazu beigetragen, dass der private Helikopter Verkehr, der vor allem von Geschäftsleuten zur Bewegung in der Stadt genutzt wurde, vermindert wurde. Auch bei uns in der Nähe gibt es drei beeindruckende Heli-Ports, die von diesem vergangenen Geschäftsfeld zeugen! Einen Heli habe ich aber bei keinem dieser luxoriösen Domizilen bisher identifizieren können.

Wie es auch ist, ich fühle mich sehr wohl hier und freue mich, dass es immer wieder was zum Staunen und vor allem zum Bloggen gibt!

Wer mich unterstützen will, kann ja was von meinen neuen Amazon-Links kaufen. Ich bekomme dann immerhin volle 10% eures Umsatzes, den ich verspreche, hier sofort in neue Abenteuer und neue Geschichten zu investieren.

Bis dahin, gülle gülle, euer Raoul

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